Tierhaltung in der Landwirtschaft - Versuch einer Bilanz

Wie steht es nun um die Zukunft der industriellen Tierhaltung?

Ob Schweine, Rinder, Geflügel oder Fische – alle Beschreibungen der Haltungsformen haben eines gemein. Noch nie wussten wir so viel wie heute. Darüber, welche komplexen Bedürfnisse und Fähigkeiten diese Tiere haben.

Und auch unsere Tierliebe ist zweifellos groß. Doch alle Erkenntnisse und Gefühle spiegeln sich in der industriellen Tierhaltung in keinster Weise wider. Die Tiere bereiten uns Wohlstand und lassen für unsere Ernährung ihr Leben; dennoch gestehen wir ihnen heute nur wenig mehr als das Überleben zu. Diese Produktionsweise ist unbestreitbar für riesige Umweltprobleme wie den globalen Klimawandel oder die Vergiftung der Böden und Gewässer durch Gülle und Pestizide maßgeblich verantwortlich und hat zu dramatischen Arbeitsplatzverlusten in der Landwirtschaft geführt. Sie steht außerdem in keinem Verhältnis zu den ökonomischen Gewinnen.

Während die Gesellschaft diese Zustände immer vehementer kritisiert, ist der Konsum tierischer Billigprodukte vom Discountmarkt seit Jahren fast unverändert hoch. Einig sind sich jedoch alle, vom Verbraucher über Politiker bis zum Agrarlobbyisten: Ein „Weiter so“ kann es nicht geben. Aber wo liegen in all dieser Widersprüchlichkeit die Alternativen und Chancen?
 
Tierhaltung im Wandel der Zeit

Lässt man die letzten hundert Jahre Revue passieren, zeigt sich, wie dramatisch sich unser Umgang mit den so genannten Nutztieren in Deutschland und Europa geändert hat. Früher lebten diese Tiere sehr eng mit dem Menschen zusammen. Sie besaßen nicht nur einen Namen, ihnen wurde auch eine eigene Persönlichkeit zugesprochen. Heute hingegen werden ihre hochgezüchteten, hybriden Artgenossen millionenfach in riesigen, strukturarmen Hallen außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung gehalten. Mittels ausgeklügelter Technik und spezieller Futtermischungen  erreichen sie in immer kürzerer Zeit das gewünschte Schlachtgewicht oder erzeugen immer größere Mengen Milch.

Aus einem ursprünglich bäuerlichen Handwerk wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte eine hochgradig technisierte, intensive und anonyme Tierproduktion. Das Leid des einzelnen Tieres ist aus dem Blickfeld verschwunden. Todesraten von der Zucht bis zur Schlachtung von bis zu 20 Prozent (Schweine- und Kälberhaltung) werden weitgehend als gegeben hingenommen oder eher als bedauerlicher wirtschaftlicher Verlust anstatt als ernsthaftes tierschutzethisches Problem wahrgenommen.
 
Zu wenig rechtliche Schranken

Gleichzeitig tut sich der Gesetzgeber schwer, dem Tierleid mit rechtlichen Schranken zu begegnen. Neben einer insgesamt geringen Kontrolldichte der Betriebe durch die Veterinärbehörden (zwischen zwei und neun Prozent) sind die Bestimmungen aus dem Tierschutzrecht  – trotz der Staatszielbestimmung des Tierschutzes im Grundgesetz – seit Jahrzehnten beschämend gering. Zudem gibt es für Milchkühe, Schafe und Ziegen, Gänse, Enten und viele andere Tierarten in der Landwirtschaft immer noch keine  rechtsverbindlichen, konkreten Vorgaben der Haltung. Und selbst bei Tiergruppen, für die Tierschutzbestimmungen existieren, werden Verstöße geduldet, wenn diese die Haltung wirtschaftlicher machen. So werden üblicherweise Ferkeln regelmäßig die Ringelschwänze abgeschnitten, obwohl dies gegen EU-Recht verstößt.

Während die Tierhaltung in der Landwirtschaft insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich dazu beigetragen hat, den Hunger in der Bevölkerung zu stillen, gibt es schon lange keine Nahrungsnot mehr in Deutschland. Schon seit geraumer Zeit hat sich der Pro-Kopf-Konsum von Fleisch bei rund 60 Kilogramm eingependelt, etwa doppelt so viel, wie Ernährungswissenschaftler empfehlen. Dennoch wird immer mehr Fleisch produziert, eine Tendenz, die von der Bundesregierung sogar massiv gefördert wurde.
Exportschlager Fleisch

War Deutschland bis 2006 noch Netto- Importeur beim Fleisch, sind wir heute Netto-Exporteur. Der Export stieg laut Statistischem Bundesamt von Januar bis Mai 2016 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um über vier Prozent auf 1,6 Millionen Tonnen. Einen hohen Anteil daran hat China. Die Exporte in das Land stiegen um über 80 Prozent! Inzwischen ist das flächenmäßig kleine Deutschland der größte Schweinefleischexporteur der Welt. Die Auswirkungen auf die ausländischen Märkte sind teils verheerend. So ruiniert der massive Export von 42.000 Tonnen Geflügelfleisch (im Jahr 2013) die afrikanische Wirtschaft, die bei den niedrigen Preisen keine eigene Infrastruktur aufbauen kann.
 
Lösungsvorschläge

Obwohl die derzeitige Situation fast schon wie ein unverrückbares Dilemma wirkt, ist es erstaunlich, wie viele Lösungsvorschläge existieren. Der wohl wissenschaftlich fundierteste Lösungsvorschlag liegt seit März 2015 auf dem Tisch des Bundeslandwirtschaftsministers und stammt von dessen eigenen Experten.

Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarfragen empfiehlt in einem 400 Seiten starken Bericht eine Reihe zeitlich abgestufter Maßnahmen, etwa in den Bereichen Tier-, Umwelt- und Verbraucherschutz sowie zur menschlichen Gesundheit. Das Ganze wäre auch bezahlbar. Die Verbrauchspreise für Fleisch würden um lediglich drei bis sechs Prozent steigen. Rund 80 Prozent der Deutschen wären hierzu auch bereit.

Die im Bericht empfohlenen Maßnahmen wurden von allen großen Tier- und Naturschutzverbänden einhellig gelobt. Doch Bundesminister Schmidt ignoriert diese Empfehlungen. Vielleicht aus falsch verstandener Rücksichtnahme auf die sich sträubende Agrarlobby. Da das Ministerium dennoch in Zugzwang ist, setzt es auf seine „Initiative Tierwohl“, die derzeit jedoch hauptsächlich durch Arbeitsgruppen und Diskussionsplattformen im Internet gekennzeichnet ist. Kernstück soll ein staatliches Label für Fleisch mit insgesamt minimal höheren Tierschutzanforderungen werden. Da es jedoch nur mit der Maßgabe der „freiwilligen Verbindlichkeit“ umgesetzt werden soll, wird es die mangelnde Transparenz im Label-Dschungel nur noch verschlimmern. Und da nach  derzeitiger Planung die Anforderungen ausgesprochen niedrig, teilweise noch nicht einmal mit geltendem Tierschutzrecht vereinbar sind, kann schon jetzt an der Akzeptanz seitens des kritischen Verbrauchers gezweifelt werden – sollte das Label überhaupt jemals umgesetzt werden.

Niedersachsen, der Hotspot der Agrarindustrie in Deutschland, ist hier erfreulich konkreter. Ein 2011 ins Leben gerufener „Tierschutzplan Niedersachsen“ wurde für zwölf Tierarten beziehungsweise Nutzungsgruppen in rund 40 tierschutzrelevante Schwerpunktthemen ausgearbeitet.

Tierartübergreifend werden vier Themenkomplexe bearbeitet. Ziele sind unter anderem der Verzicht auf routinemäßige, nicht kurative Eingriffe, die Optimierung von Management und Haltungsbedingungen, die Zucht auf höhere Gesamtvitalität sowie die Etablierung von Tierschutzindikatoren. Greenpeace sieht in einer aktuellen Studie den Ausweg in einer „Ökologisierung der Landwirtschaft“, deren Umsetzung bis 2050 als durchaus realistisch gilt. Gefordert werden etwa eine Abkehr der exportorientierten Tierproduktion, die  Verbesserung der Tierhaltung und eine Halbierung der derzeitigen Lebensmittelverluste.
 
Hin zur Ökoroutine

Der wissenschaftliche Projektleiter des Wuppertaler Instituts für Klimaforschung, Michael Kopatz, schlägt einen ähnlichen, sehr pragmatischen Ansatz vor. Da er nicht daran glaubt, dass der Verbraucher allein durch sein Verhalten die Triebfeder zu der notwendigen Änderung ist, fordert er begleitend vom Gesetzgeber einen rechtlichen Rahmen. Vordringlich sei ein Stopp für den Neubau von Megaställen. Anschließend sollten die Standards in der Tierhaltung bis 2030 nach dem Vorbild der Anforderungen der Ökoverbände angehoben werden. Das Besondere an seiner Idee: Die schrittweise vollzogene Verbesserung im Tierbereich wird für den Verbraucher zur Selbstverständlichkeit, zur „Ökoroutine“. Blaupausen hierfür gibt es reichlich, zum Beispiel die schrittweise Verschärfung der Wärmeschutzverordnung, die inzwischen gesellschaftlich akzeptiert wurde.
Etwas futuristisch wirkt schließlich ein Vorschlag des bekannten Tierethikers Richard David Precht. In seinem Buch „Tiere denken“ beschreibt er die Möglichkeit, mittel- bis langfristig von der Massentierhaltung auf „Cultured Meat“ aus dem Labor umzustellen. Denn technisch ist es heute möglich, Fleisch aus den Stammzellen von Tieren zu gewinnen, so dass für tierische Produkte kein Tier mehr leidvoll gehalten und getötet werden müsste.
Ob dies so kommen wird, weiß jedoch auch Precht nicht. Aber sein Appell ist völlig richtig:

Die beste Form, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie zu machen!